“Niemand will den Bürgerkrieg. Nur warum klingt es häufig so?” Klare Worte in der FAZ, aber leider keine Antwort auf diese Frage, sondern lediglich eine Feststellung.
“Niemand will den Bürgerkrieg. Nur warum klingt es häufig so?” Klare Worte in der FAZ, aber leider keine Antwort auf diese Frage, sondern lediglich eine Feststellung.
AUTORITÄRE RHETORIK Anstiftung zum Bürgerkrieg VON CLAUDIUS SEIDL - AKTUALISIERT AM 13.09.2023 - 06:18 Schuld haben immer die anderen. Schuld an allem, was die Mehrheit der Deutschen bedrückt, verängstigt, einengt, nervt und auf lange Sicht womöglich ruiniert, hat eine Minderheit, die klein, aber umso mächtiger ist. Sie hat keinen Namen, diese Gruppe, das ist womöglich Teil ihrer Strategie. Mal wird sie, ganz allgemein, „Elite“ genannt; die „Welt“ nennt sie, nach dem Ort, den sie angeblich bewohnt, den „Elfenbeinturm“. Die „Neue Zürcher Zeitung“ schimpft sie mal linksgrünes Milieu, mal unterstellt sie ein illegitimes Bündnis aus Politik und Medien. Es sind „die da oben“, „die in Berlin“; es ist „die Blase“ und bei Friedrich Merz immer wieder: „Kreuzberg“. Monika Gruber, populäre Kabarettistin und zwischendurch mächtige Aktivistin, antwortete neulich auf die Frage, ob sie diesen Leuten schon mal in der Wirklichkeit begegnet sei: Nein, aber in Berlin, Prenzlauer Berg, oder im Hamburger Schanzenviertel gebe es sie bestimmt. Die Schäden sind ungeheuer. Wenn die deutsche Autoindustrie sich gegen die Konkurrenz nicht behaupten kann, haben nicht ihre Manager die Schuld; es sind die Technologiefeindschaft und der Klimafetischismus jenes Milieus. Wenn in Sachsen ein Drittel der Wähler zur AfD tendiert, können die letztlich gar nichts dafür; es ist nur Reaktanz, die psychologisch verständliche Abwehr einer empfundenen Gängelung.
Die da oben, die in Berlin, die Eliten, der Elfenbeinturm: Ist es wirklich so, dass eine Minderheit dem Volk vorschreibt, was es tun und denken darf?
Wenn irgendein Radiomann die Knacklaute vor dem Binnen-I besonders betont, ist er nicht bloß ein Streber; er will das Volk zum Gendern zwingen. Und wenn Ökologen davon sprechen, dass die vielen Rindviecher die Atmosphäre verpesten und die Abholzung der Regenwälder befördern, dann beschreiben sie nicht einen Sachverhalt; sie wollen dem Volk die Wurst vom Brot und das Fleisch vom Grillrost nehmen. Veganer nehmen den Tieren die Nahrung weg Dieses Volk, so beschreiben es die, die in seinem Namen zu sprechen behaupten, ist die Gemeinschaft derer, denen es reicht. Die sich nicht mehr bevormunden und einengen lassen wollen. Die eher auf dem Land als in der Stadt wohnen, eher in der Klein- als in der Großstadt, eher an der Peripherie als in den Zentren. Die mit ihren eigenen Sorgen zu beschäftigt sind, als dass sie sich dauernd um den Zustand der ganzen Welt kümmern könnten. Die anderen sind schwerer zu beschreiben – schon weil ein prekär lebender Althippie, der im Bioladen die Zutaten für sein veganes Abendessen kauft, anscheinend genauso dazugehört wie der Start-up-Gründer, der ein Elektro-SUV fährt und für jeden Amerikaflug eine Kompensationszahlung leistet. Die Links-rechts-Unterscheidung hilft nicht weiter, weil hier niemand die Vergesellschaftung der Produktionsmittel anstrebt. Ihre Gegner sagen, man erkenne diese anderen daran, dass sie vom Volk und dessen Leben keine Ahnung haben. Und dass sie ihm dennoch Vorschriften machen. Die Unterscheidung erinnert von Ferne an jene populäre und bis vor Kurzem gern zur Gegenwartsdeutung herangezogene Soziologie, wie sie zum Beispiel Andreas Reckwitz praktiziert. Der hat in seinem Bestseller „Die Gesellschaft der Singularitäten“ die von ihm so genannte „neue Mittelklasse“ beschrieben und analysiert, das Milieu jener, „die formal gesehen über ein hohes kulturelles Kapital von meist akademischen Bildungsabschlüssen verfügen und im Feld der Wissens- und Kulturökonomie arbeiten“. Ein Drittel der Gesellschaft rechnet Reckwitz dieser Klasse zu; die anderen zwei Drittel, die er, zu ungefähr gleichen Teilen, als alte, nichtakademische Mittelschicht und als neue, prekäre Unterschicht beschreibt, interessieren ihn nur insofern, als sie eben nicht teilhaben an den Prozessen, die Reckwitz als Ästhetisierung, Stilisierung, Kuratierung des eigenen Lebens beschreibt. Wenn das Volk direkt aus dem Politiker spricht Es scheinen aber genau diese zwei Drittel zu sein, die gemeint sind, wenn Hubert Aiwanger von den normalen Menschen spricht, von der „großen schweigenden Mehrheit“, die sich „die Demokratie zurückholen muss“. Sie sind gemeint, wenn Friedrich Merz die Unterscheidung zwischen Deutschland und Kreuzberg macht. Wenn der Newsletter der „Neuen Zürcher Zeitung“ berichtet, dass die „Normalbürger“, völlig zu Recht, den Eindruck hätten, es werde ein Kampf gegen sie geführt. Wer da spricht, sind naturgemäß nicht die Normalbürger, es sind Minister, Parlamentarier, einflussreiche Journalisten. Es sind also Menschen, die selbst Teil der beschimpften und bekämpften Elite sind. Nur dass sie oenbar ein sensibleres Gespür haben für das, was das Volk wirklich denke und wolle.
Wenn Politiker und Meinungsproduzenten sich aber nicht mehr auf die Schlüssigkeit ihrer Argumente, die Legitimität ihrer Interessen, die Plausibilität ihrer Annahmen berufen; wenn sie stattdessen verkünden, aus ihnen oder durch sie hindurch spreche das Volk: Dann ist Widerspruch nicht möglich. Dann ist schon die Rhetorik autoritär. Und genau so läuft dann fast jeder Streit. Wenn ein Leitartikler davon spricht, dass Fernreisen den Urlauber womöglich nicht glücklicher machen, als das eine schöne Radtour tut: Dann sind Gegenargumente nicht nötig. Dann ist einfach klar, dass jetzt auch die Zeitung den Menschen das Fliegen verbieten will. Wenn eine Umweltministerin darauf hinweist, dass die ganze Gülle die deutschen Böden irreparabel ruiniert: Dann ist klar, dass der Bauernstand ruiniert werden soll. Und wenn ein linker Besserwisser, nach einem Blick auf die Karte, einwirft, dass Kreuzberg in Deutschland liege, bekommt er zu hören, dass das Volk genau wisse, was damit gemeint ist. Dass aber er dort oben, in seinem Elfenbeinturm, eine zu eingeschränkte Sicht habe, als dass er den Witz und die Wahrheit des Satzes verstehen könne. Zum Teufel mit den Abstraktionen Was tut man aber mit einem Gegner, für den Argumente viel zu schade sind? Man jagt ihn zum Teufel. Man holt sich die Demokratie zurück. Niemand will den Bürgerkrieg. Nur warum klingt es häufig so? Es ist, als gäbe es zwei Wirklichkeiten, von denen die eine wirklicher als die andere ist. Es ist, als gäbe es eine Welt, in der die Leute ihre Rechnungen bezahlen, ihre Autos betanken, ihre Felder düngen und die Nackensteaks auf den Grillrost legen. Und dann gibt es diesen Raum, meterweit vom Boden der Tatsachen entfernt, diese Blase, diesen Elfenbeinturm, wo man vor lauter Abstraktionen die konkrete Realität nicht mehr sieht. Erderhitzung, Artensterben, Regenwaldvernichtung. Der Juli war kühl, das hat jeder gespürt. Wo bleibt also der Klimawandel? Das Getreide wächst, das kann man sehen. Dann wird der Boden schon nicht giftig sein. Das Fleisch liegt im Kühlfach: Soll man es liegen und verderben lassen? Es ist vielleicht normal, dass die Dinge, die man sehen, spüren, riechen kann, einem plausibler, greifbarer, letztlich wirklicher erscheinen als die Schlussfolgerungen, Theorien, Projektionen in die Zukunft. Wenn allerdings Politiker und Publizisten den Aufstand gegen alle Abstraktionen zum gerechten Kampf erklären und jeden, der über den Rand eines Grilltellers hinausschauen kann, als Volksfeind verdächtigen, zumindest aber als abgehobenen Spinner: Dann sind sie entweder nicht besonders intelligent. Oder sie sind so konsequente Ideologen, wie sie das ihren Gegnern vorwerfen. Der Bildungsauftrag als Erziehungsberechtigung Natürlich gibt es all das, was die Leute in Abensberger Bierzelten oder auf Erdinger Demonstrationen so stört. Es gibt die Tendenz bei den Öentlich-Rechtlichen, den Bildungsauftrag als Vormundschaft deuten. Es gibt Leute beim Radio, die gendern so impertinent, dass man die Ohren zuhalten möchte. Es gibt, was Fragen der Diversität, der sexuellen Identität oder auch der kolonialen Vergangenheit angeht, gewisse Gruppen, die für Argumente nicht empfänglich sind und jeden, der die Dinge dierenziert betrachtet, als Rassisten, transphob oder Reaktionär beschimpfen. Und es gibt Grüne, die, wenn man sie nur ließe, endlose Verbotslisten erstellen würden. Falsch sind allerdings die Behauptungen, wonach diese Leute an der Macht seien. Falsch ist der Befund, dass, wer nicht der „woke-grün-gendersensiblen Norm entspreche“ („NZZ“), nichts mehr zu melden habe. Falsch ist die Annahme, dass es eine Verschwörung gebe, von den Klimaklebern bis ins Bundeskanzleramt, mit dem Ziel, den normalen Menschen das Recht, normal zu sein, zu nehmen. Der Geist des Ressentiments Woher kommen also die fast schon bürgerkriegsreife Wut, das nicht zu besänftigende Ressentiment? Im Herbst vor 19 Jahren, in einem immer noch lesbaren Sonderheft des „Merkurs“, haben Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel die Funktion des Ressentiments so beschrieben: „Abzulehnen, was ist, im Namen dessen, was (noch) nicht ist: Dieses Grundprinzip der Kulturkritik entstammt dem Geist des Ressentiments.“ Das Ressentiment ist die Abneigung gegen den Sieger, der Widerspruch gegen die politischen und ökonomischen Eliten. Und gegen die moralischen, was in diesen Tagen besonders wichtig ist. Ressentiment ist, was die Zu-kurz-Gekommenen empfinden. Nur dass es in der Klimakrise keine Krisengewinnler geben wird. Alle werden zu kurz kommen. Die Ressentiments heute laufen auf das Gegenteil von Bohrers und Scheels Definition hinaus: abzulehnen, was sich ändern müsste, im Namen dessen, was ist. In dieser Lage ist die Konstruktion eines mächtigen Gegners geradezu lebensnotwendig: abzulehnen, was zu tun ist, das wäre sonst nur Herzensträgheit, dumpfer Starrsinn, Zynismus gegen die Nachfahren. Nur wenn es die Gängelung durch die Elite, den Elfenbeinturm gibt, wird daraus ein Befreiungskampf. Die Freiheit der Deutschen wird an der Tankstelle und der Fleischtheke verteidigt.